Sankt Pauli öffnet den Blick, ist Eva Decker überzeugt. Hier kann man „Geschichte von unten erzählen“, in Milieus eintauchen, die in der Gesellschaft kaum Gehör finden – und sogar grenzübergreifende Werte entdecken. Die gebürtige Wienerin muss es wissen: Seit sie vor über 20 Jahren nach Hamburg kam, hat sie sich zu einer echten Kennerin des Viertels entwickelt – und daraus einen Job gemacht. Als freiberufliche Historikerin mit Schwerpunkt Sankt Pauli ist die 48-Jährige mittlerweile eine begehrte Kooperationspartnerin.
Als Eva nach Hamburg kam, studierte sie noch Geschichte und Germanistik auf Lehramt. Doch ein Brot-und-Butter-Job bei H&M entwickelte sich zum Vollzeitjob. Nicht gut für den Lebenslauf, aber Gold wert für den Lebensunterhalt. Bis Eva eines Abends im Fernsehen einen Bericht über das St. Pauli-Museum und Gründervater Günter Zint sah. Das Thema ließ sie nicht mehr los, und als das Museum 2010 in der Davidstraße einen festen Ausstellungsraum bekam, wurde aus der ehrenamtlichen Mitarbeit eine feste Teilzeitstelle. Eva quittierte den Job bei H&M, beendete ihr Studium und mauserte sich zur wissenschaftlichen Museumsleiterin. „Ich ging quasi eine Langzeitbeziehung mit dem Fundus von Günter Zint ein“, lacht sie.
Doch die Gelder wurden knapper, aus der festen Stelle Projektarbeit, 2020 war endgültig Schluss. Über ihr Netzwerk, das sie während der Arbeit im Museum geknüpft hatte, kamen erste freiberufliche Aufträge: Führungen durch das Panoptikum, die Mitarbeit an einer Bauheft-Reihe des Schaff-Verlags, die sich Hamburger Baudenkmälern widmet. Doch die bleierne Corona-Zeit machte das Bewerben nicht gerade einfacher. „Ein Vorbild, wie man so etwas freiberuflich macht, hatte ich nicht, ich war ja 20 Jahre angestellt“, erzählt die Wahl-Hamburgerin.
Nebenjob für den Lebensunterhalt – und dann die Fühler ausstrecken
Das Arbeitsamt verwies sie an die hei. Hamburger Existenzgründungsinitiative. Dort riet man ihr, mit einem Nebenjob den Lebensunterhalt zu sichern und dann die Fühler auszustrecken. „Was kann ich als Historikerin anbieten, wie ist die Auftragslage, was verlange ich? Für mich war es wichtig, da langsam hineinzuwachsen, ich wollte nicht mit gefährlichem Halbwissen starten“, erinnert sich die Freiberuflerin. Vor allem beim Verhandeln hatte sie Nachholbedarf: „In der Frage, was ein vernünftiger Stundenlohn ist, hat mich die hei. super unterstützt, aus Begeisterung für eine Aufgabe vergaß ich allzu oft, dass ich auch Geld verdienen muss.“ Die Reaktion der Auftraggeber:innen war überraschend gut: „Wenn man Zeit und Kosten im Griff hat, ist das schlicht professionell“, sagt sie heute.
Den Businessplan für einen Gründungszuschuss allerdings legte sie auf Eis – keine Zeit. „Der Startschuss in die komplette Freiberuflichkeit als Historikerin im März 2021 war eine Firmenchronik für eine Immobilienverwaltung“, erzählt die Gründerin. Weitere Jobs folgten Schlag auf Schlag: Das Pyjama-Hotel suchte historisches Material für die Inneneinrichtung, Fernsehfilmproduktionen wollten Hintergrund-Infos zu historischen Zusammenhängen, sie konzipierte Stolperstein-Rundgänge für Schulen und entwickelte mit der Agentur Olivia Jones „Kult-Kieztouren“. Eine Ausstellung zum 100. Namensjubiläum der Herbertstraße und ein Buchprojekt über die 84-Jährige transsexuelle St. Paulianerin Frau Böhmer sind in Planung.
„Erfüllung wiegt schwerer als Geld“
„Mein Ziel ist es, Orte zum Sprechen zu bringen, ich bin also keine Stadtführerin, sondern vermittle Historie, mündlich oder schriftlich. Ich bin die Frau in Dunkelblau in dieser bunten Welt“, bringt es Eva auf den Punkt. Dass sich „ihr“ St. Pauli durch die Gentrifizierung verändert, sieht die Historikerin durchaus kritisch. „Die Vielfalt muss bleiben, es braucht den Wandel von unten nach oben und nicht andersherum. Die Menschen und Geschichten machen den Stadtteil aus, das darf nicht blutleer werden, sonst wird der Stadtteil zur toten Kulisse“, ist sie überzeugt.
Umso wichtiger ist es ihr, die Geschichte der Bewohner:innen zu erzählen – und bei allem Idealismus realistisch zu bleiben. „Mein Motto ist – und das rate ich auch anderen Gründer:innen: Nicht vom Kontostand tyrannisieren lassen! Erfüllung wiegt schwerer als Geld! Aber man muss auch davon leben können.“ Als freie Mitarbeiterin für die neugegründete Stiftung Günter Zint ist sie in den nächsten Monaten abgesichert. Daneben bleibt genug Zeit für Herzensprojekte. „Es muss mir sinnvoll erscheinen und ich möchte es gerne machen. Nichts ist schlimmer, als wenn mir jemand vorschreibt, womit ich meine Zeit füllen soll.“